Samstag, 23. Februar 2013

5862 Zeichen für einen miesen Kalauer


Die sengende Hitze macht dir am meisten zu schaffen. Es ist zwar Winter auf der Südhalbkugel, doch die Sonne brennt selbst noch am späten Nachmittag mit erbarmungsloser Beständigkeit auf dich herab. Der Schweiß dringt dir aus allen Poren, willenlos tragen dich deine Füße immer weiter gen Westen. Du denkst bereits längst nicht mehr, setzt wie in Trance nur noch einen Schritt vor den nächsten und hast lediglich das eine Ziel: Überleben!
Der Trip zu Fuß durch die weite Einöde der australischen Wüste hat sich zum vielleicht letzten großen Abenteuer deines Lebens entwickelt. Die ultimative Herausforderung, die kein Scheitern duldet.
Und dann das: Aus dem Augenwinkel nimmst du ein kaum merkliche Bewegung wahr. Du stockst, dein Herz schlägt dir plötzlich bis zum Hals und pumpt dir stoßweise Adrenalin durch den dehydrierten Körper. Mit einem Schlag bist du hellwach, denn du weißt: Das ist die Situation, vor der dich alle einheimischen Buschmänner mit angsterfüllten Blicken so eindringlich gewarnt haben. Du rufst dir ihre Worte mit aller Anstrengung zurück ins Gedächtnis und unterdrückst den panischen Wunsch nach kopfloser Flucht. Es wäre pure Energieverschwendung, sie würden dich eh kriegen. Nutze deine letzten Reserven lieber für den unvermeidlichen Kampf und hoffe, dass es nicht zu viele sind. Langsam drehst du dich um, jede Sehne in deinem Leib ist bis zum Zerreißen gespannt. Die Götter scheinen dir alles andere als wohlgesonnen, auch der letzte Funken Hoffnung vergebens, denn du siehst dich einer ganzen Armee der unerbittlichsten Krieger gegenüber. Hunderte Augenpaare durchbohren dich mit hasserfülltem Blick, du weißt, hier ist keine Gnade zu erwarten. Nach schier endlosen Sekunden des gegenseitigen Belauerns, in denen du bereits mit der Welt abgeschlossen hast, beginnt der Kampf. Ein Orkan aus Schlägen und Tritten prasselt auf dich hernieder. Mit der Wut der Verzweiflung setzt du dich gegen deine übermächtigen Angreifer zur Wehr: Kängurus mit roten Boxhandschuhen.
Du teilst in alle Richtungen aus, schlägst wild um dich und steckst doch einen harten Treffer nach dem anderen ein. Aber du wirst dich ihnen nicht ergeben, niemals!
Das schlimme Gemetzel, von dem die Abbos noch in Generationen sprechen werden, wird in einer Wolke aus rotem Staub verschluckt. Zweimal muss sich die Sonne neu am Horizont erheben, der Kampf tobt jedoch ohne Unterlass weiter! Deine Fäuste sind schon lange geschwollen und schwer wie Blei, die kraftraubenden Tritte gehen jetzt immer öfter ins Leere. Du taumelst und setzt einen letzten linken Schwinger in die Richtung, in der du einen Gegner vermutest. Es wird dein letzter Schlag sein, für mehr reichen deine Kräfte nicht. Hart treffen deine aufgeplatzten Knöchel den Unterkiefer eines fiesen Beuteltiers. Du spürst wie er bricht und denkst noch: Ich habe hier alles gegeben! Das Vieh geht dumpf zu Boden, du lässt die Arme hängen, hast keine Energie mehr um dem nächsten Angriff etwas entgegenzusetzen. „Jetzt habt ihr mich!“ Schwankend stehst du da, bereit für das unausweichliche Ende - doch nichts passiert.
Nach und nach legt sich die rote Dunstwolke, dein Adrenalinspiegel sinkt und du spürst mit einem Mal jeden einzelnen Knochen in deinem Körper, vor allem die kaputten. Der rechte Arm hängt ausgekugelt und schlaff herab, mit der linken Hand befühlst du die zahllosen Beulen an deinem Hinterkopf. Blut rinnt dir in Strömen aus den vielen Cutverletzungen im Gesicht. Durch deine gebrochene Nase bekommst du nur schwer Luft und deine Zunge stößt beim Abtasten der Zahnreihen in die eine oder andere neue Lücke. Oberkörper und Beinen scheinen eine einzige riesige Schürfwunde zu sein, mindestens drei Rippen sind angeknackst - aber du stehst!
Du schaust dich um. Es bietet sich dir ein erschreckendes Bild. Mindestens sieben Dutzend Kängurus liegen in teilweise unnatürlichen Verrenkungen auf dem Boden. Viele stöhnen und atmen schwer. Sanitäterkängurus hüpfen von einem zum andern, verteilen Pflaster und tröstende Worte und packen die, bei denen nichts mehr geht, in ihre großen Beutel. Weniger schwer verwundete stützen ihre humpelnden Gefährten. Viele haben, des Kämpfens müde, ihre roten Boxhandschuhe in den Staub geworfen.
Was bisher keiner noch so großen Militärmacht gelungen ist, du hast es geschafft. Du hast die Kängurus in einem aussichtslosen Kampf besiegt und ihrer überheblichen Art damit ein für alle mal ein Ende gesetzt. Und du hast überlebt.
Deine matten und ungläubigen Blicke schweifen über das endlose Meer aus Beuteltierleibern. Und dann siehst du ihn: Keine zwei Schritte neben dir liegt ein blutüberströmter gräulicher Fellknäuel, kaum größer als ein Säugling. Du näherst dich ihm und sinkst neben ihm auf die Knie. Der kleine Koala regt sich nicht. Mit der Wange nahe über seiner kleinen Stupsnase und der Hand auf seinem winzigen Brustkorb prüfst du seine Atmung. Doch du spürst keinen Lufthauch, kein Heben und Senken der pelzigen Brust. Mit der die letzte Gewissheit noch verdrängenden Hoffnung tastest du nach dem Pulsschlag des süßen kleinen Bären. Doch es ist zu spät. Das harmlose Tierchen ist dahin. Die kastanienbraunen Augen schauen dich groß und mit entwaffnender Unschuld an. Noch nie wurde wohl ein einziges stummes Wort so laut, klar und mit dieser grundehrlichen Naivität in die Welt hinausgeschrien: Warum?
Eine einzelne Träne rinnt dir über die blutverkrustete Wange. Sie tropft auf die Erde und wird sogleich gierig vom ausgedörrten Wüstenboden aufgesogen. Mit sanfter Geste schließt du die Lider des kleinen Rackers, auch um der bohrenden Frage zu entgehen, denn du kennst die unbefriedigende Antwort: „Entschuldige kleiner Freund“ sagst du. „Du bist unfreiwillig zwischen die Fronten eines Krieges geraten, der nichts mit dir zu tun hatte und in dem du keine Chance hattest. Du bist das unschuldige Opfer des Krieges.“ – Eben ein Koalateralschaden.

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